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Grundlagen des Fortschritts


Foto: Pixabay


 

Was die Wissenschaft und wissenschaftliche Arbeit kennzeichnet und warum vielfältige Denkansätze wichtig sind


Geräte und Arzneimittel erleichtern das Erkennen und die Behandlung von Krankheiten; Computer und andere moderne Technologien ermöglichen den raschen Austausch von Informationen; gesammeltes Detailwissen über die Erdgeschichte oder auch das Leben früherer Generationen von Menschen hilft, die eigene Zeit besser zu verstehen: Zu verdanken sind diese und viele andere nützliche Errungenschaften der wissenschaftlichen Arbeit von Forschern. Was aber genau zeichnet diese Arbeit aus? Worauf kommt es in der Wissenschaft an? Wo gibt es Verbesserungsmöglichkeiten? Nicht zuletzt um Fragen wie diese geht es in der Conrad-Naber-Lecture, der Vortragsreihe „Visionen“ der unifreunde. Das Thema des Jahres 2022 (2. November,18 Uhr, im Haus Schütting) ist das Verhältnis von Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Zu den Fachleuten, die sich über Jahrzehnte in unterschiedlichen beruflichen Positionen damit auseinandergesetzt haben, gehört der ehemalige Generalsekretär der VolkswagenStiftung Dr. Wilhelm Krull.

Wissenschaftliche Aussagen sind etwas anderes als Meinungen

Schon in der Antike war es üblich, zwischen bloßen Meinungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu unterscheiden. Letztere folgen einem höheren Anspruch, nämlich dem, auf der Grundlage guter Begründungen zu Aussagen von möglichst objektiver Gültigkeit zu gelangen, das heißt zu Aussagen, die nicht von Gefühlen oder Vorurteilen einzelner Personen abhängig sind. Unter dem Oberbegriff Wissenschaft wird eine Vielzahl unterschiedlicher Forschungsbereiche versammelt. Den auf diesen Gebieten tätigen Wissenschaftlern ist jedoch ein Ziel gemeinsam: Sie wollen mithilfe kontrollierter Methoden und auf systematisch strukturierte Weise Tatsachen erkunden. Um welche Tatsachen es sich handelt, hängt vom jeweiligen Forschungsgebiet ab. So kann die Arbeit beispielsweise Naturphänomenen, der Technik oder auch der menschlichen Kultur gewidmet sein.

Der Gegenstand der Forschung ist eine Sache, der Zweck eine andere. Denker im Gefolge des griechischen Philosophen Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) haben das Erkennen um des Erkennens willen in den Vordergrund gerückt, also den Selbstzweck wissenschaftlicher Erkenntnis. Im Laufe des vergangenen halben Jahrtausends ist jedoch dem praktischen Nutzen wissenschaftlicher Forschung immer mehr Bedeutung beigemessen worden. Als wegweisend erwies sich in dieser Hinsicht ein Werk mit dem lateinischen Titel „Novum Organum Scientiarum“ (auf Deutsch: Neues Werkzeug der Wissenschaften) des englischen Philosophen Francis Bacon (1561 bis 1626). In ihm verknüpft der Autor die Wissenschaft mit der menschlichen Macht. Die Ergebnisse der Wissenschaft können demnach helfen, Macht über die Natur zu erlangen beziehungsweise diese zu kontrollieren.

Den Ausgangspunkt der Forschung bilden Fragen

Ganz gleich, ob es um Erkenntnisse um der Erkenntnis willen oder aber um das Erkennen möglicher neuer Ansätze für praktische Anwendungen geht - wer Wissenschaft betreibt, erstrebt neues Wissen; und um dieses zu erlangen, kommt er nicht umhin, Fragen zu formulieren. Mit anderen Worten: Am Ausgangspunkt Erfolg versprechender Forschung stehen möglichst kluge Fragen. Als Meister geschickter Fragen gilt der griechische Philosoph Sokrates (469 bis 399 vor Christus). Von ihm selbst sind zwar keine Texte überliefert, doch von seinem Wirken berichtet sein Schüler Platon in seinen Werken. Mit seinen Fragen verfolgte Sokrates demnach das Ziel, seine Gesprächspartner zu verunsichern und dazu zu bringen, ihre eigenen Ansichten infrage zu stellen. Auf dieser Grundlage konnten sie zu neuen Einsichten gelangen. Die Methode wird als Mäeutik bezeichnet. Dieser Begriff geht auf ein altgriechisches Wort für Hebammenkunst zurück. Von Nutzen ist das Verfahren nicht nur in pädagogischer Hinsicht, also für Lehrer beim Umgang mit Schülern, sondern auch, wenn es gilt, Phänomenen auf den Grund zu gehen und tiefere wissenschaftliche Einsichten zu gewinnen.

Blicke über den eigenen Tellerrand versprechen Erkenntnisgewinne

In der heutigen Welt wird die Wissenschaft vor allem als eine Angelegenheit von Fachleuten betrachtet, die in immer stärkerem Maße spezialisiert sind. Dies birgt die Gefahr, dass sich Diskussionen über wissenschaftliche Fragen auf eng begrenzte Fachkreise beschränken – und dies selbst dann, wenn die Antworten ganze Gesellschaften betreffen. Der Vortragende der Conrad-Naber-Lecture 2022, Wilhelm Krull, hat daran schon vor längerer Zeit Kritik geübt. So forderte er unter anderem mehr Offenheit von Wissenschaftlern gegenüber der Zivilgesellschaft sowie Fächern, die nicht ihre eigenen sind. Von Forschern sei zu erwarten, dass sie dialogbereit seien, sich bemühten, ihre Arbeit für andere nachvollziehbar zu machen, und die Grenzen ihrer Forschungsmethoden und Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung im Blick hätten. Wünschenswert, so Krull, sei außerdem, dass in Studiengängen dem systemischen Denken wieder mehr Raum gegeben werde. Zusammenfassend lassen sich die Forderungen auf einen einfachen Nenner bringen: Es geht darum, den Erkenntnishorizont zu erweitern.

Vom Klimawandel zum systemischen Denken

Systemisches Denken bedeutet, das große Ganze in den Blick zu nehmen und nicht bei Einzelaspekten stehen zu bleiben. Veranschaulichen lässt sich seine Bedeutung auch an zwei der großen Themen, die in jüngster Zeit die öffentlichen Diskussionen beherrscht haben: Corona-Pandemie und Klimawandel. Der menschliche Beitrag zur globalen Erwärmung, so die herrschende Auffassung, steige, je mehr Treibhausgase bei menschlichen Aktivitäten gebildet und freigesetzt würden. Das heißt: Aus dieser Perspektive erscheint die Erwärmung in erster Linie als Folge des Wirtschaftens, genauer: als Folge im Laufe der Jahre und Jahrzehnte gewachsener wirtschaftlicher Aktivitäten. Eine Antwort könnte darin bestehen, nach technologischen Lösungen zu suchen, bei denen weniger Treibhausgase freigesetzt oder Treibhausgase aus der Erdatmosphäre entfernt werden. Möglich wäre aber auch, den Blick zu weiten und den Treibhausgasausstoß in einem größeren Zusammenhang zu betrachten.

Mensch beeinflusst Erde auf vielfältige Weise

Was dies bedeutet und welche Rolle dabei das systemische Denken in der Wissenschaft spielt, zeigt eine der berühmtesten Studien überhaupt, die 1972 erschienene Arbeit „Die Grenzen des Wachstums“. Eine Gruppe von Forschern um den US-amerikanischen Chemiker und Ökonomen Dennis Meadows hatte darin mit dem Mittel der Computersimulation untersucht, wie sich Industrialisierung, Nahrungsmittelproduktion, Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen, Umweltverschmutzung, Bevölkerungs- und Kapitalwachstum auf das System Erde auswirken. Das Ergebnis: Um eine Überschreitung der Belastungsgrenzen des Planeten zu verhindern und einen Zustand des Gleichgewichts zu erreichen, besteht nur die Möglichkeit, das Bevölkerungs- und das Kapitalwachstum, das heißt die Zunahme der Geld- und Sachvermögen beziehungsweise Produktionsmittel, einzudämmen. Dies sind demnach die einzigen möglichen Stellschrauben. Der Klimawandel – in der Studie selbst kein Thema – erscheint vor diesem Hintergrund als ein Aspekt eines größeren Zusammenhangs, nämlich der übermäßigen Nutzung natürlicher Grundlagen, die sich auf vielfältige Weise bemerkbar macht. Wollte man das Problem umfassender lösen, müssten dementsprechend neben Fragen zum Klimawandel vor allem Fragen der folgenden Art beantwortet werden: Was bedeutet Eindämmung des Kapitalwachstums, und welche Auswirkungen hätte sie? Welche Folgen hätte ein Verzicht auf Konsum und Wachstum für das Finanz- oder sogar für das gesamte Wirtschaftssystem?

In Bezug auf das Vorgehen und die Möglichkeiten von Wissenschaftlern zeigt das Beispiel der berühmten Studie mindestens zweierlei: zum einen, dass der Wahl der Ausgangsfragen von Untersuchungen entscheidende Bedeutung zukommt, und zum anderen, dass ein weiter Horizont helfen kann, tieferen Ursachen von Problemen oder Erscheinungen der Welt näherzukommen. Wie wichtig es ist, nicht in engen Gedankengebäuden zu verharren, sondern sich zu öffnen – unter Umständen auch Anregungen aus der Zivilgesellschaft – hat auch der Umgang mit der Corona-Pandemie verdeutlicht. Nicht nur Wilhelm Krull hat darauf hingewiesen, dass es an einer systemischen Betrachtung ihrer Auswirkungen gemangelt habe.

Was der Umgang mit der Corona-Pandemie lehrt

Wie sich herausgestellt hat, haben sich die unterschiedlichen Maßnahmen in vielfältiger Weise auf die Gesellschaft ausgewirkt. Außer erheblichen wirtschaftlichen Schäden kam es zum Beispiel zu folgenschweren psychischen Belastungen, nicht zuletzt bei Kindern und Jugendlichen. Als einzigen Ausweg aus der Pandemie haben Politiker und auch viele angesehene Wissenschaftler die neuartigen Impfungen propagiert. Politische und selbst juristische Entscheidungen zugunsten dieser Impfungen wurden unter der Annahme getroffen, dass sie im Wesentlichen unschädlich und zudem äußerst effektiv seien. Inzwischen ist jedoch allgemein bekannt, dass sie Ansteckungen und damit die Verbreitung des Coronavirus nicht verhindern können und zudem bei einer keineswegs unerheblichen Zahl von Menschen gesundheitliche Probleme verursachen. Damit hat sich bestätigt, was manche namhaften Wissenschaftler, die allerdings in der breiten Öffentlichkeit kaum zu Wort kamen, frühzeitig betont hatten. Dieser Umstand lenkt den Blick zugleich auf ein weiteres Merkmal der Wissenschaft, das es verdient, immer wieder ins Bewusstsein gerufen zu werden: Wissenschaft ist der Versuch, Wahrheiten zu ermitteln; und bei dieser Suche können selbst große Mehrheiten irren.

Außenseiterpositionen können sich als richtig erweisen

Die Wissenschaftsgeschichte ist reich an Beispielen dafür, dass Einzelne zunächst Außenseiterpositionen eingenommen, sich mit ihren Erkenntnissen am Ende aber doch durchgesetzt haben. So soll schon Aristarch von Samos im dritten vorchristlichen Jahrhundert die Ansicht vertreten haben, dass sich die Erde um die Sonne bewege. Ehe sie sich durchsetzte, vergingen jedoch noch fast zwei Jahrtausende. Auch Charles Darwin wusste die herrschende Meinung gegen sich, als er seine Theorie von der Abstammung des Menschen entwickelte. Und als Albert Einstein eine völlig neue Vorstellung vom Phänomen der Gravitation formulierte, lebte die Expertenwelt in der Überzeugung, dass das Newtonsche Gravitationsgesetz die angemessene Beschreibung sei.

Eine Kernbotschaft aus dem Zeitalter der Aufklärung

Einer der führenden Medizinprofessoren unserer Zeit, John Ioannidis von der US-amerikanischen Stanford University, hat mit Blick auf die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie unter anderem dies erklärt: „Ernsthafte Kritiker sind unsere größten Wohltäter.“ Sie seien nötig, um die Wissenschaft voranzubringen. Eine Grundlage für Kritikfähigkeit ist eigenständiges Denken, und das kann auch bedeuten, dass man sich von den Urteilen anderer lösen muss. Vor etwa drei Jahrhunderten ist eine Bewegung entstanden, die das Bemühen um die Durchsetzung des vernunftorientierten Denkens im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts mit dem Begriff Aufklärung verknüpft hat. Der Philosoph Immanuel Kant (1724 bis 1804) hat die Aufklärung in einem berühmt gewordenen Beitrag als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ beschrieben. Unmündigkeit, so erklärte er, sei die Unfähigkeit, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Dass es nicht nur beim Ausgang aus der Unmündigkeit, sondern auch im Interesse neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse hilfreich sein kann, vielen Stimmen mit Offenheit zu begegnen und so die eigene Urteilsfähigkeit zu schärfen, dürfte außer Frage stehen.

(Autor: Dr. Jürgen Wendler, Stand: September 2022)



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